Sechzig Meerschweinchen

von Bernd Finkeldey
aus: Cornelius Völker, Meerschweinchen, Schirmer/Mosel Verlag, München, 2009

Seit die grau- bis rotbraunen, eher kurzhaarigen Wildrassen, etwa die Tschudi-Meerschweinchen, domestiziert wurden und über das Meer aus Südamerika zu uns kamen, sind durch Züchtung 21 Rassen entstanden. Allein ihre Namen erfreuen, gibt es doch das Glatthaar und das Crested Meerschweinchen, den Kurzhaarperuaner, das Rosetten, das Rex, die US- und CH-Teddy, das Ridgeback, Somali und Curly Meerschweinchen allein bei den Kurzhaarigen. Die Langhaarigen heißen Sheltie, Coronet, Peruaner, Angora, Texel, Merino, Mohair, Alpaka und Lunkarya. In allen Rassen finden sich nebst selbstverständlich sehr individuellen Namen die unterschiedlichsten Haarfarben und Zeichnungen. Jedoch nicht oder nur für kurze Zeit ihres Lebens bei den Skinny Pigs und den Baldwins, den beiden Nacktmeerschweinchenrassen. Nicht zu einer Rasse, aber zur Familie gehören die Cuys, die in Peru zum Verzehr gezüchtet werden, und die Satinmeerschweinchen, deren in allen Farben und Zeichnungen glänzendes Fell in allen Rassen anzutreffen ist.
Die Meerschweinchen faszinieren jedoch nicht nur Züchter, sondern sind, seit sie in den 1960er Jahren in die Zoohandlungen kamen, besonders bei Kindern beliebt, da sie robuste Pflanzenfresser sind und nicht zu schnell zubeißen, deshalb auf das Wohligste zu streicheln oder zu bemuttern sind.

Trotz all dieser Vorzüge hat sich die europäische Kunstgeschichte im Gegensatz zu Marder und Hermelin nicht sonderlich intensiv dem Meerschweinchen angenommen. Eher gar nicht. Ein weiterer Grund für Cornelius Völker, sich diesem Bildthema zu widmen.

Cornelius Völker beobachtet seine Umwelt sehr genau. Seine Blicke richten sich auf das scheinbar Banale. Das so banal nicht ist, wenn man bedenkt, wie viel Zeit unseres Lebens wir damit verbringen, durchaus bewusst und interessiert Schwimmern zuzuschauen, Handtaschen auszuwählen und zu tragen, selbstverständlich auch getragene zu erblicken, Reihen von Buchrücken durchzusehen, Strohhalme, Badeschlappen oder Kleidungsstücke anzuschauen, Hunde und Tauben anzugucken, Trockentücher zu suchen oder Butterbrote und Schokoladentafeln zu begutachten, jemandem beim Staubsaugen zuzuschauen oder einfach nur einen Blick auf das Fenster der Nachbarwohnung zu werfen, das zum Lüften und Auslüften der Bettwäsche geöffnet oder dessen Fensterbank zum gemütlichen Verfolgen des Treibens in der Welt außerhalb mit Kissen oder Decke ausgepolstert wurde. All diese Wahrnehmungen hat Cornelius Völker für bildwürdig gehalten und zur Anschauung gebracht.

Doch ist es nicht nur der Moment im Alltäglichen, der sein Interesse findet, sondern das Aufscheinen von Oberflächen. Es ist ihm Anlass für die Malerei, bei der er das malerische Äquivalent für die stofflichen Qualitäten der Dinge und Lebewesen sucht.

Auf zumeist glatten Farbgründen, welche die Hintergrundfolie und den Grund seines Bildes bilden, entstehen seine Bildwelten. Das Aufeinandertreffen von zweifarbigen Hintergründen schafft entschiedenen Raum. Durch allmähliche Aufhellung zwischen unterem und oberem Rand der Leinwand wird ein Tiefenraum erzielt, der erfahrbar, aber nicht exakt beschreibbar ist.

In ihm nehmen die Meerschweinchen durch das Haar der Pinsel und ihrer Führung mit, durch und über Ölfarben Gestalt an. Das kurze, drahtige Haar eines Rex' etwa wirkt wie mit dem Pinsel gestriegelt. Dem Kurzhaarperuaner hingegen wird über die mit kurzer Pinselführung eng gesetzte Zeichnung des am Körper anliegenden Fells strähnig und in schwingenden Kurven verlaufendes Deckhaar appliziert, das an den Rückenwirbeln einzeln absteht oder sich vom Halswirbel in Strähnen in alle Himmelsrichtungen über Hinterkopf und Schulter ergießt. Einem Angora Meerschweinchen sträuben sich die hellen Haare an Wange und Hals, während die übrige lange, grau-bräunliche Körperbehaarung zottelig dicht, aber gleichsam federleicht und weich bis zum Boden reicht.

Die Gemälde zeigen uns die Meerschweinchen überlebensgroß. Nicht, um die überaus geschätzten Haustiere zu heroisieren oder zu vergöttern. Sie werden vergrößert und aus ihrer alltäglichen Sphäre, dem Umfeld aus Stroh, Futter, Wiese oder Teppichboden, herausgehoben. Und in eine neue, ihnen und uns gleichermaßen ungewohnte Umgebung gesetzt. Vor dem monochromen, nur abgeschatteten Hintergrund verändert sich sodann auch unser Blick auf das Tier. Er wird zugleich distanzierter, gleichsam emotionslos, und der Beleuchtung wegen, die von oben kommt und das Objekt in Szene setzt, aber kaum Schatten, erst recht keine dramatischen, werfen lässt, auch bohrender.

Aus der Nahsicht gerät sogar die Wirklichkeit aus dem Gesichtsfeld. Dann tritt Malerei unverstellt von gegenständlichen Bezügen und Bedeutungen vor Augen. Die unterschiedlichen Farbaufträge, die eben noch Gegenstände bezeichneten, geben sich als antinaturalistische, mehrschichtige Pinselstriche zu erkennen. Ihr Haar trägt Farbe auf und erzeugt so das haarige Fell eines Tieres. Farbe wird stofflich, der Akt des Malens nahezu greifbar, wenn mit kurzem Ansetzen Ölfarbe fett und pastos oder in Schwüngen und Wirbeln auch sparsam, fast trocken auf die Leinwand gebracht wird.
In Cornelius Völker Werk offenbart sich eine malerische Qualität, die abstrakte und informelle Künstler für sich reklamierten, dereinst jedoch absichtsvoll an der Realität vorbeimalten. Cornelius Völker hat diese ideologische Demarkationslinie offenkundig nie interessiert. Ihm ist nicht daran gelegen, Abstraktes oder Gegenständliches hervorzubringen, sondern mit vermeintlich Unspektakulärem, aber durchaus Interessantem, spektakuläre Gemälde zu schaffen.